L‘Alpe d‘Huez

Bei gutem Wetter kann man aus Le Bourg d‘Oisans bis nach Alpe d‘Huez hochblicken. Die 13 km Asphalt, die sich wie eine Schlange in den bei Rennradfahrern in aller Welt bekannten Wintersportort Ihren Weg bahnen, liegen versteckt zwischen Felsen und Bäumen. Wie oft habe ich die 21 legendären Serpentinen bezwungen? Kein anderer Anstieg jedenfalls hat mich häufiger empfangen. Sorge und Nervosität sind einer gewissen Vorfreude gewichen, wenngleich eines immer bleibt: Respekt.

Zu gut erinnere ich mich an meinen ersten Besuch im Tal der Romanche, in dem Legenden des Radsports gekürt wurden. Wenigstens eine Viertelstunde war ich damit beschäftigt, die Rückentaschen umzupacken. Münzen? Kreditkarte? Bloß kein unnötiges Gewicht. Ich hätte mir mehr Gedanken über die Abfahrtszeit und das Aufwärmen machen sollen. So rollte ich also zuversichtlich auf die Wand zu und meine Lungen bettelten keine 10 Minuten später um Sauerstoff, als ich mich an den 11-12 % Steigung an dem ersten und gleichzeitig steilsten Abschnitt des Anstiegs abmühte.

Erbarmungslos erhöhten der Asphalt und die Felswand die 28 Grad Lufttemperatur auf weit über 30. Kein Wind. Die Luft stand und lachte mich aus. 

Eine Pulle Wasser ergoss sich über meinen Kopf bei Kehre 3, die andere landete vor Kehre 5 da, wo sie eigentlich hingehört. Ich erinnere mich an den winzigen Wasserfall, an dem ich die Flaschen wieder auffüllen konnte. Ansonsten wäre ich vermutlich umgekehrt und hätte den Anstieg nie wieder in Angriff genommen. Ich fuhr durch. Zwar nicht ohne zwei kurze Pausen, aber ich erreichte einige Zeit später stolz wie Oscar L’Alpe d‘Huez. Die Zeit? Nebensache. Ich weiß es nicht mal mehr. Marco Pantani wäre in den knapp 90 Minuten zweimal raufgefahren. Dafür rauchte der auch nicht eine Schachtel Zigaretten am Tag und wog knapp die Hälfte meiner damals 88 Kilo.

Inzwischen sind die Glimmstengel Geschichte und die Zeiten besser, aber Immer noch doppelt so lang im Vergleich zu „Il Pirata“, aber auch ungedopt. Es wird höchste Zeit für eine neue Bestzeit.

Da war diese Auffahrt vor zirka sechs Jahren. Im Tal sah ich ein Stück vor mir einen Fahrer am Kreisverkehr zum Anstieg nach L’Alpe d’Huez abbiegen. Es dauerte fast 8 Kilometer, bis ich ihn schluckte. Wir fuhren fast das gleiche Tempo. Sein Kumpel fuhr das Begleitfahrzeug und reichte in jeder zweiten Kurve Handtuch und Flasche. Meine Frau beschränkte sich auf die Trinkflasche und fotografierte fleißig, bis sie die Lust verließ. Also fuhr sie irgendwann hoch und gönnte sich einen Cappuccino, als ich das Flüssige am nötigsten hatte. Wir kamen fast gleichzeitig im Skiort an. Ich nahm ihm vielleicht 2 Minuten im gesamten Anstieg ab. Meine Genugtuung verflog, als er beiläufig erwähnte, dass er gerade das zweite Mal hintereinander hochgefahren war. 

Apropos zweimal hochfahren: 2017 saß ich mal wieder auf dem Campingplatz in Le Bourg d‘Oisans. Ich wusste mit mir und meiner Zeit nichts anzufangen. Das Wetter war trüb. Leichter Regen war für den Abend angekündigt. Eine große Ausfahrt kam nicht infrage. Also schnappte ich mein Rad und fuhr nochmal rauf, eine Minute schneller als zwei Tage zuvor. Ich musste an den Holländer denken. Ob es ihm Spaß gemacht hatte?

Heute, im Juni 2021, parke ich den Wagen in Allemond unterhalb Lac du Verney.. Begleitet werde ich von Philipp, Berg-Fetischist nach nur einem Jahr auf dem Rennrad. Ich kann seine Nervosität gut nachvollziehen. Gemeinsam rollen wir uns für seine erste Auffahrt nach L‘Alpe d‘Huez ein. Mit Bravour hat er gestern bereits den Col du Glandon und den Col de la Croix de Fer gemeistert. 

Viel ist nicht los. Nur wenige Radler gönnen sich die Tortour hinauf in den Wintersportort, der im Sommer eher vor sich hin döst. Corona tut sein Übriges. Was wohl im Kopf von Philipp vor sich geht, frage ich mich, während ich einen schwer tretenden Franzosen überhole? Ich muss mich wohl noch etwas gedulden, bis wir im Café oben unsere heutigen Leiden austauschen.

Wer schneller war? Nun, das thematisiere ich vielleicht in einer Fortsetzung des Berichtes. Seit heute stehen jedenfalls 1:11:09 Std. für die 13,91 km bis zum Zielstrich oberhalb des Dorfes als neue Messlatte zu Buche. Pantani ist nicht mehr doppelt so schnell, so viel ist sicher.

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