Neulich in Bimbach

Impressionen vom 31. Rhön Radmarathon am 10. Juli 2021

Bim-was? Bimbach!

Die kleine Rhöngemeinde im Landkreis Fulda ist Rad-Enthusiasten bestens bekannt, wirbt der RSC’77 doch alljährlich mit dem Slogan: „An Pfingsten fährt man in Bimbach“. Nicht so im Pandemie-Jahr 2020, als die Veranstaltung komplett abgesagt werden musste, und auch nicht dieses Jahr, als die Inzidenzzahlen eine Verschiebung in den Juli erforderten – aber immerhin ist die beliebte Ausfahrt in 2021 überhaupt zustande gekommen – zur Freude der rund 1.500 Teilnehmer, die schnell genug waren, sich im Internet einen Startplatz zu ergattern.

Anreise am Vorabend, das Hotel ist auf Teilnehmer des Radmarathons eingestellt, gesicherter Fahrradkeller, Frühstücksbuffet am Veranstaltungstag schon ab 5:00 Uhr. Mit einem Müsli eine solide Energie Grundlage legen, eine Tasse Kaffee für den frühmorgendlichen Kick, dann zum Rad.

Luftdruck checken, Startnummer befestigen, einklicken und los. In der kühlen, feuchten Morgendämmerung geht es vom Hotel an den Startplatz, mein individuelles Zeitfenster für die Abfahrt ist mit 06:20 Uhr vorgegeben. Einchecken, Antigentest vorzeigen, Selbsterklärung abgeben, Teilnehmerbändchen anlegen – go!

Vor mir liegen 258 km Distanz und 4.700 Höhenmeter, unterbrochen von sieben Kontrollpunkten, die zugleich als Verpflegungsstationen dienen. Die Veranstalter haben das Zeitlimit auf 19:30 Uhr festgesetzt – das bedeutet elf Stunden Fahrtzeit einschl. Pausen – nicht allzu üppig, aber machbar. Nun gilt es, die richtige Balance zwischen zügigem Vortrieb und dosiertem Energieeinsatz zu finden.

Nicht zu langsam, um rechtzeitig ins Ziel zu kommen, aber auch nicht übertreiben, um überhaupt das Ziel zu erreichen.

Warmrollen

Die Fahrt beginnt im kühlen Morgennebel, das Wasser kondensiert in dicken Tropfen an der Radbrille, auf den ersten 30 km ist sie völlig nutzlos. Laut Wetterbericht soll die Sonne gegen neun Uhr herauskommen und das Thermometer bis mittags auf zweiundzwanzig Grad klettern – die perfekte Temperatur für eine solche Unternehmung. Noch ist es allerdings ungemütlich frisch.

Im lockeren Tempo geht es entspannt über sanfte Hügel, die Sicht liegt abschnittsweise unter 100 m, gelegentlich gibt der Nebel einen Blick auf die schöne Rhönlandschaft frei, bevor er sich wieder schwer über die Straße legt.

Rennradfahrer ringsum, in Gruppen und Grüppchen unterwegs, finden in spontanen Formationen zusammen, trennen sich wieder und unterliegen einer ständigen Neuordnung. Andere Pelotons in geordneter Reihe und im gemeinsamen Look ihres Vereins unterwegs.

Manche Gruppen überholen – man hängt sich dran – wenn das Tempo stimmt, bleibt man eine Weile am Hinterrad, wird die Gruppe zu schnell, lässt man sie von dannen ziehen und arbeitet sich – jetzt selbst in der Funktion des Windschattenspenders für die Partner am Hinterrad – an die nächste Gruppe heran, fährt vorbei und schließt in kurzem Sprint zur nächsten Gruppe auf, um sich erneut ein Stück mitziehen zu lassen – Rushhour und Gruppetto Hopping um sieben Uhr morgens auf den Landstraßen von Bimbach.

Die Fahrerinnen und Fahrer sind noch frisch, haben gut gefrühstückt, sind aufgedreht angesichts der bevorstehenden, außergewöhnlichen Tour. Wir fahren in mehreren Reihen nebeneinander auf der leeren Landstraße. Lockeres Geplauder nach rechts „woher kommst Du, fährst Du zum ersten Mal mit…?“, schlaue Sprüche nach links „… seht Ihr die Berge dort – die müssen wir rauf … jeden einzelnen davon … spart Eure Körner…“ – „welche Körner?“ … „haha“.

Unüberhörbar: die Bescheidwisser: „…ich bekomme das Material von einem Profi, der verkauft mir seine Teile für ein Schnäppchen…“ „…ich bin nicht markentreu, erst war es Trek, dann Fuji jetzt fahre ich ein Cannondale…“ und natürlich die Angeber: „…ich habe nach dem Ötzi immer noch so viel Adrenalin, dass ich direkt nach Hause fahre…“ – „…letztes Jahr am Mont Ventoux…“ usw. blabla…

Kein Wind. Im Peloton kommen wir ohne große Anstrengung mit 33-35 km/h zügig voran, arbeiten zeitliche Puffer heraus.

Die Fahrt führt durch ein Waldstück, die Sonne bricht zum ersten Mal an diesem Tag gleißend durch das Blätterdach und verhilft der Landstraße zu einem bizarren Heiligenschein. Noch bevor die Kamera gezückt ist, hat uns der Bodennebel wieder fest im Griff, das Trikot klebt wie eine zweite Haut am Leib – kalt und feucht. Dann – sehr willkommen – der erste Verpflegungsstopp.

Frühsport

Wenig später der erste nennenswerte Aufstieg: zwei drahtige Jungs auf blitzblanken Profimaschinen, allerneueste Modelle, ziehen locker an uns vorbei, die Gesichter fast vollständig von den riesigen, verspiegelten Astronautenbrillen verdeckt. Die beiden haben definitiv eine vielversprechende Rennradzukunft vor sich, denke ich neidlos. Einen Kilometer weiter: einer von ihnen steht am Straßenrand, der andere kehrt um, fährt ein paar Meter zurück – was ist da los? Er hebt eine dünne Schlange vom Boden auf – nein, keine Schlange, es ist eine Fahrradkette, seine Fahrradkette … „das ist mir auch noch nie passiert…“

Auf der anderen Seite des Hügels ist inzwischen die Sonne herausgekommen und zeigt die Landschaft in morgendlicher Pracht, die Felder dampfen. Der erste Teilnehmer steht mit einem Platten am Straßenrand, zieht den Schlauch raus, hantiert geübt, kommt offensichtlich zurecht „… alles klar? brauchst Du Hilfe?“ – „nein, danke, alles o.k.“ Unsere Gruppe zieht vorbei. Ich beschließe, dass mir das heute nicht passieren wird – ich habe definitiv keinen Nerv für eine Reifenpanne. Hinten habe ich vor ein paar Tagen einen neuen Reifen aufgezogen, der vordere ist noch gut in Schuss – ich entspanne mich, schließlich bin ich heute nicht allein unterwegs, sondern Teilnehmer einer großen Veranstaltung. Ein Begleitfahrzeug kann jederzeit gerufen werden und würde mich im worst case samt Rad zum Ausgangspunkt zurückbringen, besser geht’s nicht.

Bald darauf: wieder eine ordentliche Auffahrt. Zwanzig Mann quälen sich den Berg hinauf, schleppen sich die 12% steile Rampe hoch, schalten immer weiter in den nächsten, leichteren Gang, bis die Kette auf dem größten Ritzel angekommen ist und von der Übersetzung keine weitere Erleichterung mehr zu erwarten ist. Bereits 60 km auf der Uhr. Energie und Elan haben schon etwas nachgelassen, das muntere Geplapper ist verstummt. Da kommt ein fröhlicher Zuruf von hinten „ein schickes Rad hast Du da!“ – bevor ich noch „dankeschön“ keuchen kann, ist die Bergziege in unglaublichem Tempo vorbei geschossen, erreicht mit beneidenswerter Leichtigkeit die Spitze der Kolonne, überholt mit federndem Wiegetritt das „Tête de la Course“, biegt um die Kurve und ward nicht mehr gesehen. OK, das ist bestimmt kein Teilnehmer, der ist gerade erst von zuhause losgefahren, das ist seine Hausrunde, vielleicht ist es sogar ein eRennrad … rede ich mir so lange ein, bis ich es selbst zu glauben beginne.

Die Gruppenzusammensetzungen haben sich inzwischen „eingerüttelt“. Ich fahre jetzt schon eine ganze Weile lang mit Florian zusammen (die Vornamen stehen auf den Rückenschildern unter den Startnummern, sehr praktisch); Hipsterbart, schwäbischer Akzent, mittlerweile wohnhaft in Norddeutschland – sehr nett. Wir wechseln uns bei der Arbeit gegen den Wind ab. Er interessiert sich für mein Rad, die Details des Selbstaufbaus, den 1×12 Antrieb, macht sogar ein Foto beim nächsten Kontrollpunkt. Abschied an der Streckenteilung – „Du packst die lange Strecke, warte auf mich im Ziel“ – „haha“ guter Witz, seine Strecke ist 55 km kürzer, unwahrscheinlich, dass ich vor ihm in Bimbach eintreffe. Aber es ist noch lange nicht so weit: zwei Drittel des Marathons liegen noch vor uns.

Nach der Streckenteilung wird es einsam auf der Route. Hier auf dem längsten der drei Parcoure sind deutlich weniger Fahrer unterwegs, über lange Abschnitte sieht man niemanden, keine Zugmaschine weit und breit, die im Kampf gegen den Luftwiderstand unterstützen könnte – jetzt also: Kräfte einteilen, Tempo raus. Erfreulicherweise sind nur wenige Autos und Motorräder unterwegs – eine gute Gelegenheit, die Landschaft zu würdigen.

Km 120 – hinter dem dritten Kontrollpunkt lauert der Schweinehund

Zwölf Uhr mittags, High Noon in Bischofsheim. Mehr Rennräder als Einwohner. Beim dritten Kontrollpunkt wartet eine warme Mahlzeit auf uns: Nudeln mit Tomatensauce oder Gulasch, genau das richtige nach fünfeinhalb Stunden Fahrt.

Bei einer Wochenendausfahrt wäre jetzt das Ende der Tour erreicht. Angesichts von 120 km und 2.500 Höhenmetern würde man landläufig von einer durchaus beachtlichen Runde sprechen. Heute dagegen ist noch nicht einmal die Hälfte der Distanz geschafft, bezüglich der Höhenmeter sind wir bereits über den Zenit, immerhin.

Es geht weiter. Das Wetter zieht sich zu, der Himmel ist dunkelgrau geworden, es fallen ein paar Tropfen. Ich spüre ein Zwicken im linken Bein – kündigt sich hier etwa ein Krampf an? Vorsichtshalber etwas Zug von der Kette nehmen, einen leichteren Gang einlegen, höhere Kadenz, locker pedalieren.

Die Straße fühlt sich komisch an – verliere ich etwa Luft? Nein, vermutlich nur Unebenheiten im Belag – die Teermaschine hatte damals einen schlechten Tag.

Die nächste Steigung, der rechte Schuh drückt, Schnalle lockern. Weiter bergauf, Blick stur auf den Asphalt gerichtet, Meter für Meter aufwärts, Tunnelblick – jede Steigung ist irgendwann zuende.

Solche und andere unproduktive Gedanken beginnen ihr Unwesen zu treiben, Fragen, die man sich nicht stellen darf: „wozu eigentlich die ganze Quälerei?“ „Warum nicht einfach absteigen, auf das Begleitfahrzeit warten, abbrechen, in die Hängematte legen…?“ – Schluss jetzt: „Ruhe im Narrenkastl! Stell‘ Dich nicht so an – hier wird gefahren, dafür bist Du hergekommen“.

Ein Schild kündigt den nächsten Kontrollpunkt an. Die Sonne hat die Wolken zur Seite geschoben, blauer Himmel über grünen Hügeln und gelben Feldern. Am Kontrollpunkt: leckerer Kuchen, erfrischende Kaltgetränke ohne Ende, nette Mitfahrer, saubere WCs – schon besser – weiter geht’s!

Später wird mir klar: ein solches Motivationstief überwindet man am besten mit Musik – das werde ich beim nächsten Mal berücksichtigen.

Km 160 – der Countdown beginnt

Bei km 160 durchbreche ich eine wichtige psychologische Grenze: wie immer, wenn die verbleibenden Streckenkilometer zweistellig werden, also weniger als 100 km Distanz zu bewältigen sind. Der Countdown beginnt. 100 km – das ist meine wöchentliche Sonntagsrunde – 100 km schafft man irgendwie immer, es wird allmählich überschaubar. Kurz darauf sind es dann nur noch 95 km, dann 90, 85, 80 … es läuft jetzt wie geschmiert.

Bei km 200 ist der nächste Meilenstein erreicht. 200 km, das ist schon eine stolze Distanz. Die Pferde riechen den Stall.

Wieder eine Verpflegungsstation, diesmal sogar mit Grillwürstchen – super, etwas Salziges ist jetzt perfekt. Deutlich mehr Teilnehmer bevölkern den Sportplatz im Vergleich zum letzten Stopp. Die drei Strecken des Radmarathons laufen hier zusammen und führen alle Teilnehmer gebündelt zum Ziel – ab sofort wieder ordentlich Verkehr auf den Nebenstraßen von Bimbach.

Bevor wir zu übermütig werden, zeigt die Rhön am Großen Nickus noch einmal, wo der Hammer hängt. Schonungslos werden 18% Steigung aufgerufen. Wir geben vor, dass uns das nicht beeindruckt. Einige schieben ihr Rad – das ist keinesfalls ehrenrührig – denn wer bis hierhin gekommen ist, hat heute schon Außergewöhnliches geleistet, immerhin ist Bimbach selbst auf dem kürzesten Parcours nicht unter 185 km zu haben.

Km 230 – weniger als 40 km to go. Das entspricht ungefähr meiner täglichen Pendelstrecke ins Büro und zurück. Jetzt muss keine Energie mehr gespart werden, lass‘ uns den Tank leer fahren. Flugzeuge landen mit minimaler Spritreserve, Formel 1 Boliden kommen praktisch trocken gefahren ins Ziel, warum also nicht auch hier? Alles andere ist doch nur schlechtes Timing. Schauen wir mal, was noch geht.

Die nächste Gruppe am Berg. Bei Puls und Schweiß max das Feld von hinten aufrollen, langsam, aber stetig an jeden einzelnen Radfahrer heranarbeiten, Zentimeter um Zentimeter, im Schneckentempo vorbei, dann den nächsten Teilnehmer ins Visier nehmen, heranarbeiten, anerkennende Zurufe „Respekt…“ Jetzt keinesfalls nachlassen, die Beine brennen wie Feuer, Zähne zusammenbeißen, Lenker fest umklammernd im Sattel bleiben, schon ist die erlösende Kuppe erreicht, niemand fährt mehr vor mir, ich muss ein zufriedenes Grinsen herunterschlucken. Allerdings: viele Aufstiege von dieser Sorte dürfen jetzt nicht mehr kommen.

Bergab werde ich – defensiver Downhiller, der ich bin – schnell wieder eingeholt, einer nach dem anderen brettern sie wie die Teufel an mir vorbei – es ist mir egal…

Dann – unerwartet: das Ortsschild von Bimbach – nur noch 500 m bis zu Ziel – geschafft! Wow!

Florian kommt mir schon mit einem Kaltgetränk entgegen, Gratulation, High Five, Fotos.

Wir lassen die Tour noch einmal Revue passieren.

Tolle Streckenführung, perfekt ausgeschilderter Kurs, hübsche Ortschaften, verschlafene Weiler, Fachwerkhäuser, phantastische Ausblicke.

Als Belohnung für die mühsamen, knackigen Aufstiege folgen schier endlose Abfahrten mit weiten Kurvenradien und gutem Belag, auf denen hohe, aber gut kontrollierbare Geschwindigkeiten erreicht werden, während die Bremse sich langweilt.

Sieben Kontrollpunkte: organisiert von Sportvereinen, den freiwilligen Feuerwehren, der Kurverwaltung, dem Tourismuszentrum. Unzählige ehrenamtliche Helfer, eine mobile Werkstatt, Fotografen. Eine bemerkenswerte Getränkeauswahl dank des Sprudel-Hauptsponsors, von Hand belegte Käse- und Salamibrote, hausgemachte Kuchen, Waffeln, dazu Bananen, Äpfel, Zitronen, Energieriegel – mangelnde Verpflegung kann heute niemand als Ausrede geltend machen.

Nach kurzem Chillen: Abschied von Florian – wir verabreden uns für nächstes Jahr, wenn es wieder heißt: Pfingsten fährt man in Bimbach.

Wenn ihr dann auch dabei sein wollt, schaut doch mal auf der Internetseite des RSC 77 vorbei:
https://www.rsc-bimbach.de
https://www.rhoen-radmarathon.de

P.S.: Mit weniger als einer Ampel pro 100 km ist der Rhön Rad Marathon auch uneingeschränkt SoA-kompatibel.

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